Mein Name ist Wilhelm Stock. Ich wurde am 13.11.1909 als achtes Kind der Familie Stock in Finkenstein, ehemals Oberschlesien, geboren. Am 19.01.1945, dem sechsten Geburtstag meines zweiten Sohnes, werde ich in Pitschen getötet - fast am Ende eines grausamen Krieges und am Ende eines kurzen eigenen Familienlebens. Ich habe heute noch einen Sohn, vier Enkel und acht Urenkel.
Nach meinem Tod hatte ich meiner Familie fast 65 Jahre nicht viel zu sagen. Es war ein langes Schweigen - ein bitteres Schweigen. Vielleicht war es für meine Frau und für meine Söhne notwendig, um den Schmerz zu überwinden und an einem anderen Ort neu anfangen zu können. Vielleicht liegt es in der Natur des Menschen, so unglaublich schmerzliche Dinge zu verdrängen. Aber dauerhafte Verdrängung kann dazu führen, dass man schnell wieder vergisst - und meine bescheidenen Gedanken sind mein persönlicher Beitrag wider das Vergessen!
Mein Leben und mein Tod brauchen nicht länger ausgeblendet zu werden. Millionen Menschen haben ähnliche Leiden durchlebt und jeder kann und sollte seinen Beitrag gegen das kollektive Vergessen leisten.
Ich bin vier Jahre und acht Monate, als der erste Weltkrieg im Juli 1914 beginnt. Der Waffenstillstand am 11. November 1918 tritt 2 Tage vor meinem neunten Geburtstag ein. Man könnte also sagen, dass ich das Kriegsgeschehen des ersten Weltkrieges kaum bewusst wahrnehmen, geschweige denn verstehen kann.
Nach meinem Tod hatte ich meiner Familie fast 65 Jahre nicht viel zu sagen. Es war ein langes Schweigen - ein bitteres Schweigen. Vielleicht war es für meine Frau und für meine Söhne notwendig, um den Schmerz zu überwinden und an einem anderen Ort neu anfangen zu können. Vielleicht liegt es in der Natur des Menschen, so unglaublich schmerzliche Dinge zu verdrängen. Aber dauerhafte Verdrängung kann dazu führen, dass man schnell wieder vergisst - und meine bescheidenen Gedanken sind mein persönlicher Beitrag wider das Vergessen!
Mein Leben und mein Tod brauchen nicht länger ausgeblendet zu werden. Millionen Menschen haben ähnliche Leiden durchlebt und jeder kann und sollte seinen Beitrag gegen das kollektive Vergessen leisten.
Ich bin vier Jahre und acht Monate, als der erste Weltkrieg im Juli 1914 beginnt. Der Waffenstillstand am 11. November 1918 tritt 2 Tage vor meinem neunten Geburtstag ein. Man könnte also sagen, dass ich das Kriegsgeschehen des ersten Weltkrieges kaum bewusst wahrnehmen, geschweige denn verstehen kann.
Am ersten September 1939 bin ich fast 30 Jahre alt. Im August 1937 haben meine Frau und ich unseren ersten, im Januar 1939 unseren zweiten Sohn bekommen. Ich habe mir immer Kinder gewünscht, obwohl ich mit sieben Geschwistern aufgewachsen bin. Obwohl ich bereits seit mehr als 70 Jahren tot bin, würde ich heute sagen, ich - oder sollte ich sagen wir - waren wirklich einige Jahre glücklich. Beide Söhne, in einem kleinen Dachgeschosszimmer in Angersdorf geboren, sind gesund und haben uns mit großer Freude erfüllt.
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Unsere Kinder bei der Morgenwäsche |
Nun, wir verfügen gewiss über keine Reichtümer, wie man meinen Aufzeichnungen und Bildern aus jener Zeit auch unschwer entnehmen kann. Wir leben in Finkenstein, Angersdorf, auch kurz in Groschowitz bei Oppeln und zuletzt in Kochelsdorf. Wie Sie bereits wissen, haben wir vier Jahre vor meinem Tod ein Häuschen in Kochelsdorf erworben. Übrigens war das bereits mitten im Kriegsgeschehen, in Russland musste die Wehrmacht bereits schwere Niederlagen hinnehmen, aber davon erfahren wir von der Kriegspropaganda im Kreis Kreuzberg nicht wirklich viel. Ja - dieser Krieg, was haben wir in jenen Tagen eigentlich davon verstanden?
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Familienglück? |
Eigentlich bin ich nicht risikoscheu, aber irgendwie muss man ja auch für seine Familie sorgen.
Wie auch immer, ich kann heute nicht mehr sagen, wie ich damals zum Krieg genau gestanden habe. Aber ich weiß, was ich heute meinen Nachkommen darüber erzählen kann. Meinen Kindern, Enkeln und Urenkeln: Es ist ein verdammter Krieg. Ich lebe zwischen zwei verdammten Kriegen! Ich habe es mir nicht ausgesucht. Dieser Krieg wurde ausgelöst durch die Allmachtsphantasien einiger Wahnsinniger und zu viele haben sich nicht von Anfang an dagegen zur Wehr gesetzt. Zu viele Mitläufer, Profiteure in einer Zeit, die für die meisten ein täglicher Überlebenskampf war.
Vielleicht war ich doch immer zu feige? Oder ich bin nur opportunistisch? Es sind so viele Dinge, die einen in schweren Zeiten umtreiben. Aber dieser Krieg hat unendliches Leid über Millionen von Menschen auf der ganzen Welt gebracht, soviele wie niemals zuvor in einer kriegerischen Auseinandersetzung. Was haben wir für Verantwortung auf unser Land geladen?
Dieser Krieg hat aber auch meinen kleinen Traum von einem bescheidenen Leben mit einem persönlichen Glück zerstört, Glück, auf das jeder Mensch ein Anrecht hat. Am 19. Januar 1945, dem sechten Geburtstag meines zweiten Sohnes, muss ich die schwerste Entscheidung meines Lebens treffen. Ich habe meine Frau und meine Kinder in einen Zug gesetzt und auf eine Reise ins Ungewisse geschickt. Ich habe keine Ahnung, ob meine Familie beschossen, beraubt oder meine Frau vergewaltigt werden würde. Ich weiß nicht, ob ich meine Familie je wiedersehen werde. Aber ich werde es schon wenig später erfahren.
Dieser Krieg hat viele Menschen zu Objekten und andere zu martialischen Bestien gemacht. Es fällt mir heute schwer, dass alles zu verstehen. Ich wünsche mir, dass meine Nachfahren den Krieg überhaupt nur als ultima ratio und nur in Notwehr überhaupt in Erwägung ziehen. Ich wünsche mir außerdem, dass meine Nachfahren stets skeptisch sind, wenn Kriegshandlungen als "alternativlos" dargestellt werden, dass sie ggf. die wahren Beweggründe erkennen und Demagogen frühzeitig die Stirn bieten. Gegen Naturgewalten und Unglücksfälle sind wir Menschen weitgehend machtlos, gegen den von Despoten und Machtmenschen provozierten Krieg nicht. Meine Kinder und Enkel leben in einem freiheitlichen Land, in einem Wohlstand, den die meisten Menschen so bislang nicht kannten. Es ist sehr wohltuend, das zu wissen. Aber noch wichtiger ist mir, dass die Erinnerung an die Grausamkeit dieses Krieges stets im Bewusstsein meiner Nachkommen bleibt.
Ich habe also meine Familie zusammen mit anderen Verwandten in den Zug nach Westen gesetzt. Die Rote Armee hatte die Umgebung von Pitschen bisher umgangen, um schneller nach Breslau vorstoßen zu können, so wird es die Geschichtsschreibung später erklären. Die Reisegenehmigung für Else und die Kinder habe ich gerade erst bekommen. Ich werde ihnen sagen, dass ich nachkomme. Wir treffen uns in Leiferde, wo meine Schwägerin in früheren Jahren oft als Hilfe beim "Spargelstechen" gewesen ist.
Bis dahin werden westliche Allierte in jedem Fall vorstoßen, und eben nicht die gefürchtete Rote Armee.
Ich muss jedenfalls noch hier am Bahnhof von Pitschen ausharren - Gott weiß, warum ich das mache und mich nicht auch in den verdammten Zug gequetscht oder mich sonst irgendwie abgesetzt habe.
In Leiferde werden wir uns alle wieder treffen. Alles wird gutgehen, alles muss gutgehen.
Es ist wirklilch "allerletzte Eisenbahn". Ich setze Else und die Kinder in den Zug, zusammen mit ihrer Schwester Mia und deren Kindern Gerd und Peter. Gerd ist mit seinen 15 Jahren schon ein großer Junge. Er soll auf die anderen aufpassen und sich kümmern - warmes Wasser von der Lok, Decken und alles, was man im Winter zum Überleben braucht. Er ist ein guter Junge.
Diese Foto machen meine Enkel von dem Ort, wo ich meine Familie zum letzten Mal sehen soll! |
Aber was machen sie dann mit mir, wenn sie mich hier finden? Bin ich mit meiner Bahnuniform als Zivilist erkennbar, oder bin ich ein Nazi - können die das überhaupt auseinander halten? Interessiert es sie überhaupt, ob Zivilist, Staatsbediensteter oder oder oder? Wer trägt eigentlich die Verantwortung für all das? Niemand hat mir je gesagt, wieviele Gedanken einem jetzt durch den Kopf schießen.
Der Zug fährt ab, verdammt, was mach ich hier? Wenn ich mitfahre, werden sie mich auch erwischen, was dann. Was sie mit Deserteuren machen, habe ich schon oft gehört. Was sie dann mit meiner Familie machen?
Ich springe runter, rufe Elso zu, dass sie nun die Familie sicher nach Leiferde bringen muss und tapfer sein soll. Ich fahre hier auch so bald wie möglich los. Wir treffen uns in Leiferde, fangen dort neu an. Alles wird gut.
Das Stahlroß pfeifft, dampft und rollt los. Ich stehe am Rand und winke, bis ich niemenden mehr erkennen kann.
Jetzt also die drei Kilometer bis Pitschen, zum Bahnhof. Dort warten sie schon auf mich. Der Dienstbetrieb muss auch in Krisenzeiten aufrecht gehalten werden. So ist es doch, oder?
Wenn der Zug nur nicht von den verdammten Bombern angegriffen wird. Das hört man immer wieder. Hoffentlich kommen sie durch - hoffentlich. Ich bete.
Mein Arbeitsplatz in Pitschen |
"Liebe Else, ich weiß, wie schwer es für dich und die Kinder war. Du hast alles richtig gemacht.
Ihr Kinder, Enkel und Urenkel, gern hätte ich Zeit mit Euch verbracht und wäre euch ein stolzer Vater und Gro0vater geworden."
Auszug Wikipedia:
"Durch die Nähe der polnischen Grenze war Pitschen bereits am ersten Tag des Zweiten Weltkrieges in den Krieg einbezogen; im Vorfeld war durch SS-Einheiten ein provokatorischer Überfall polnischer Truppen auf das Pitschener Forsthaus vorgetäuscht worden. Die Rote Armee erreichte Pitschen am 19. Januar 1945. Am 8. Mai 1945 fiel Pitschen als Folge des Zweiten Weltkriegs an Polen und wurde in Byczyna umbenannt. Bei Kriegsende wurden mehr als 200 Zivilisten erschossen, darunter am Bahnhof die Eisenbahner und Personen, die keinen Platz mehr im Flüchtlingszug bekommen hatten [2]
1945/46 wurde die deutsche Bevölkerung weitgehend vertrieben. Die neu angesiedelten Bewohner waren zum Teil Heimatvertriebene aus Ostpolen."
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