Der Bahnhof in Pitschen

Der Bahnhof in Pitschen

Familie Stock aus Finkenstein

Die nähere Betrachtung der Geschichte der Familie Stock aus Finkenstein in der heutigen Woiwodschaft Oppeln beginnt für uns im August 2010. Die meisten Zeitzeugen leben inzwischen nicht mehr, als wir (Sohn und zwei Enkel) von Wilhelm und Else Stock die Dörfer unserer Vorfahren besuchen. Zu dritt fahren wir an die Orte, in denen die näheren Wurzeln der Familie liegen: Finkenstein, Karlsmarkt, Kupp, Angersdorf, Kochelsdorf und Pitschen. Einige Bilder in einem Fotoalbum von Elisabeth Stock helfen bei der Zurordnung. Einen ersten Versuch der Aufarbeitung von Flucht und Vertreibung unternehmen Elisabeth Stock, ihre Söhne Wolfgang und Hans-Jürgen sowie deren Cousin Gerhard Kislat das erste Mal im Jahr 1977, als sie alle Orte im Rahmen einer dreitägigen Reise aufsuchen.

Eines der ältesten Fotos aus dem Album von Elisabeth Stock zeigt die Familie ihres Ehemannes Wilhelm Stock um das Jahr 1915. Die zehnköpfige Familie lebt in dem kleinen Ort Finkenstein in Oberschlesien, 12 km nördlich von Oppeln.

Familie Stock aus Finkenstein, Kreis Oppeln
Auf diesem Foto die zehnköpfige Familie von links:
Erich Stock, Richard Stock, Tochter Emma Stock, Mutter Auguste Emma Stock, Paula Stock, Gustav Stock, Vater Friedrich Wilhelm Gottlieb Stock, geb.  (sen.), Martha Stock, Wilhelm Stock jun. und Selma Stock.
Emma Stock, geb. Bruder, geb. am 29.07.1868 in Finkenstein, hatte den Wirtschafter Wilhelm Stock, geb, 03.06.1864 in Klink, am 10. November 1890 in Kupp geheiratet.
Wir können uns angesichts der noch erhaltenen Bilder in die Zeit versetzten. Das Leben ist anstrengend, Mutter und Vater Stock müssen hart arbeiten, um die Familie zu ernähren. Alle Kinder wachsen in Finkenstein auf und wohnen in diesem Haus an der Dorfstraße.
Das Haus der Familie Stock
2010 sieht das Wohnhaus so aus. Ein Anbau ist hinzugekommen!

Gegenüber steht ebenfalls ein Haus eines weiteren Familienzweigs der Stocks. Darin befindet sich eine kleine Fleischerei sowie ein Gasthaus mit Saal.
Hier lebt des Bruders von Wilhelm Stock sen., Karl Stock sen. Auch Karl Stock hat mit seiner Frau mindestens zwei Söhne, nämlich Karl Stock jun. sowie Gustav Stock. Auf dessen Namen stoßen wir im Zusammenhang mit einer jugendlichen Freundschaft mit Frau Frenzi K. aus Finkenstein.

Frau K. konnte uns noch einige Hinweise geben!
Frenzi K. lebt heute in Berlin und verbringt zeitweilig noch Kurzurlaube in ihrem Haus in Finkenstein. Wir trafen sie dort im August 2010. Gustav Stock wurde offenbar Pilot. Ihn verschlug es nach dem Krieg möglicherweise in den Raum Stuttgart. 

Das Haus des Karl Stock, in dem die Söhne Herbert und Gustav Stock (beides Cousins von Wilhelm) aufwuchsen, war ehemals eine Gaststätte mit einem Kolonialwarengeschäft. Herbert soll Fleischer werden, Karl interessiert sich für Flugzeuge und wird offenbar Pílot.
Vater Wilhelms jüngster Sohn Wilhelm jun. wird als jüngstes Kind der Familie in Finkenstein geboren und wächst dort zusammen mit sienen Geschwistern auf.
Wilhellm Stock jun. und Eltern
Der ältere Bruder Gustav Stock (Sohn des Vaters Wilhelm Stock) zieht bereits im ersten Weltkrieg nach Berlin. Er arbeitet nach Angaben des Neffen Heinz Stock bei einem Rechtsanwalt und kauft in Grünau ein Haus mit großem Garten. Den Bruder Erich nimmt er ebenfalls mit, weil auch dieser offenbar in Oberschlesien keine Arbeit findet. Erich heiratet später eine Elli, Gustav die uns bekannte Martha.
Richard Stock, der Vater von Heinz, hat eigenes Vieh gehalten und nebenbei gearbeitet. Diese Arbeit war eine Tätigkeit im staatlichen Forst. Erinnerlich ist dem Sohn Heinz das sogenannte "Langholz-Fahren" an die Oder.


Heinz Stock erinnert sich.
Die Muter (Emma Stock) stirbt bereits sehr jung. Das genaue Todesdatum ist aktuell noch nicht bekannt. Heinz Stock meint sich zu erinnern, dass sein Vater Richard deshalb in jungen Jahren bereits heiraten sollte, damit wieder eine Frau auf dem Hof in Finkenstein einzieht. Vater Friedrich Wilhelm stirbt offenbar auch bereits vor Kriegsende.

Wilhelm aber besucht nach seiner regulären Schulzeit die Handelsschule, um seine Berufschancen zu erhöhen. Die Zeugnisabschrift bestätigt, dass Wilhelm jun. in der Zeit vom 01. April 1927 bis zum 22. März 1929 die Städtische Handelsschule in Oppeln besucht und sich der "Abschlussprüfung mit Erfolg unterzogen" hat.

Beglaubigte Abschrift des Zeugnisses der Handelsschule Oppeln
Elisabeth Rabiega ist eine junge Frau aus Karlsmarkt (heute Karlowice), einem Ort der 22 km von Finkenstein (heute Brzezie) entfernt liegt.

Die Kirche in Karlsmarkt, in der Elisabeth Rabiega vermutlich getauft wurde.
Wie damals üblich, muss Elisabeth bereits als junges Mädchen in ein Anstellungsverhältnis treten. Die Eltern finden eine Lehrerfamilie, bei der sie lebt und arbeitet. Ort und Name sind uns nicht mehr bekannt. Elisabeth erzählt aber später, dass es ihr dort nicht gefällt und sie deshalb wegläuft - zurück zu ihren Eltern, zurück nach Hause. Doch die Eltern können oder wollen sich in jener Zeit große Emotionen nicht leisten. Kinderreiche Familien mit geringem Einkommen geben ihre Kinder aus dem Haus, um Kosten zu sparen. Das ist üblich.  Auch Else muss gegen ihren Willen zurück. Der Vater von Elisabeth ist ein einfacher Arbeiter, der mit dem Pferdefuhrwerk Holz ausfährt. Die Familie lebt in Karlsmarkt, wo Elisabeth auch am 11.03.1913 geboren wird. Bei unserem Besuch auf dem Friedhof an der Kirche in Karlsmarkt finden wir im August 2010 keine Hinweise mehr auf ein Grab mit dem Familiennamen Rabiega. 
Familie von Elisabeth Rabiega
Vermutlich in den endenden 20ern geht Elisabeth in das 22 km entfernte Finkenstein. Gegenüber dem Haus der Familie Wilhelm Stock sen. führt der Fleischer Gustav Passek eine kleine Schlachterei. Gustav Passek ist nach Erinnerung von Heinz ein Zugereister. Er heiratet die ältere Schwester von Wilhelm Stock, Selma. Selma Passek, geb. Stock, und Gustav Passek haben den gemeinsamen Sohn Rudi.
Elisabeth findet in jungen Jahren bei ihrer späteren Schwägerin Selma Passek eine Anstellung als Verkäuferin. Wilhelm und Elisabeth lernen sich in dieser Zeit kennen und lieben. Heinz Stock meint sich zu erinnern, dass auch Wilhelm Stock bei der Familie Passek gewohnt bzw. gearbeitet hat. Möglicherweise hat er dort seine kaufmännische Ausbildung gemacht, was allerdings bisher nicht bestätigt ist.

Und sie beschließen zu heiraten. Doch einige Familienmitglieder der Stocks haben Bedenken und äußern diese auch. Am heftigsten interveniert offensichtlich Paula, die ältere Schwester von Wilhelm. Nach ihrer Einschätzung ist Elisabeth als Arbeitermädchen -ein "Dienstbolzen", wie sie in rauher Umgangssprache selbst zu hören bekommt- keine Frau für ihren Bruder. Eine derartige Verbindung sei für einen jungen Mann mit Abschluss der Handelsschule nicht angemessen, werden Familienangehörige zitiert.
Aber Wilhelm hat seinen eigenen Kopf, die Ratschläge seiner Schwester und auch seiner Eltern schlägt er aus. Gegen den familiären Widerstand beschließt er, mit Elisabeth eine Familie zu gründen. Es scheint heute, als habe Wilhelm  Eigenschaften wie  Beharrlichkeit und Widerstand, aber auch Eigenwilligkeit als genetische Persönlichkeitsmerkmale weitergegeben.

In der gleichen Kirche, in der auch schon seine Eltern (in Kupp) geheiratet hatten, heiratet auch Wilhelm jun. seine Verlobte Elisabeth Stock am 19. November 1933.

Kirche in Kupp im Jahre 2010
Hochzeit Wilhelm und Elisabeth 1933
Wilhelm jun. und seine Frau ziehen vermutlich zunächst nach Angersdorf.  Wilhelm ist nach Ablegung seiner Prüfung an der Handelsschule von Beruf Kaufmann. In Angersdorf betreiben beide ein kleines Kolonial- und Kurzwarengeschäft.

Elisabeth und Wilhelm Stock vor ihrem kleinen Geschäft in Angersdorf
In diesem Haus in Angersdorf werden auch die beiden Söhne Wolfgang (1937) und Hans-Jürgen (1939) geboren. Elisabeth wird später erzählen, dass ihr Mann Wilhelm seinen Söhnen sehr nahe stand. "Er hat gedacht, er hat Herrgötter geboren", ließ sie später ihre Enkel wissen. Von seinem Neffen Heinz Stock ist das Zitat von Wilhelm überliefert: "Ein Junge ist nur dann ein richtiger Junge, wenn er für mindestens 5 Mark Schaden am Tag anrichtet."
 
 
Wilhelm Stock ist stolz auf seine Kinder: "Ein Junge ist nur dann ein richtiger Junge, wenn er für mindestens 5 Mark Schaden am Tag anrichtet"
Söhne Wolfgang und Hans-Jürgen in Kochelsdorf
Heute sehen wir auf das Geburtshaus von Wolfgang und Hans-Jürgen und das Geschäft mit gemischten Gefühlen:

Bild des Kolonial- und Kurzwarengeschäftes im August 2010

Ein Blick ins Innere des Verkaufsraums im August 2010
Aber Wilhelm erkennt offenbar, dass man in einer kleinen Domäne wie Angersdorf von einem kleinen Kolonialwarengeschäft allein nicht leben kann. Er wünscht sich ein weiteres Standbein.
Am 16. August 1939, acht Monate nach der Geburt seines zweiten Sohnes Hans-Jürgen, hat Wilhelm einen Arbeitsunfall. Nach Erinnerungen seines Neffen Heinz Stock zog er sich dabei eine Verletzung am linken Fuß zu, die zu einer dauerhaften Beeinträchtigung führt. Heinz Stock meint sich zu erinnern, dass er bei Arbeiten an Bahnhofsleuchten gestürzt sei.

Bescheid über die Gewährung einer vorläufigen Unfallrente

Der Bescheid gibt auch Auskunft über die Verletzungen
Wilhelm erhält vom 01. Februar 1940 eine Unfallrente in Höhe von 29,50 RM "monatlich im voraus", die er vom Postamt des jeweiligen Wohnortes abholen kann.
Nach derzeitigen Erkenntnissen ziehen Elisabeth und Wilhelm mit ihren Kindern nach Groschowitz.  Wilhelm hat dort möglicherweise auf dem dortigen Bahnhof eine neue Verwendung gefunden.  Möbelrechnungen verweisen auf eine Anschrift in Groschowitz, einem südlichen Stadtteil von Oppeln, in der Oppelner Str. 64. Ob es sich tatsächlich um eine Wohnanschrift, oder nur um eine Lieferanschrift handelte, ist derzeit noch unklar.
 
Möbelrechnung über eine Kücheneinrichtung
 
Rechnung über den Kauf eines Schlafzimmers
Die Dokumente legen zumindest den Schluss nahe, dass Wilhelm und Elisabeth sich am 11. April 1940 Möbel an die Anschrift Oppelner Str. 64 haben liefern lassen. Der Lieferschein der Kücheneinrichtung belegt, dass die Lieferung auch an diese Anschrift erfolgt sein muss.
Aus dem Jahr 1940 gibt es ferner eine "Anzeige über Verheiratung", die ebenfalls aus Ausstellungsort Groschowitz nebst Unterschrift von Wilhelm ausweist. Diese Anzeige dürfte im Zusammenhang mit der damals erforderlichen Erklärungen zu jüdischen bzw. nichtjüdischen Verwandschaftsverhältnissen gestanden haben. Ein Zusammenhang mit der Anstellung bei der Reichsbahn ist zumindest nicht erkennbar. Erst aus dem Jahr 1942, als der Wohnort bereits Kochelsdorf lautet, wird von Wilhelm eine Anzeige über Verheiratung für die Deutsche Reichsbahngesellschaft erstellt.
Im Jahr 1941 legt Wilhelm eine wohl eher formlose Prüfung zur einfachen  Befähigung für den Rechnungsdienst  bei der Deutschen Reichsbahn, Reichsbahndirektion Oppeln, ab. Dieses Dokument weist Wilhelm als Reichsbahngehilfen (am Bahnhof?) in Groschowitz aus.


Den Erzählungen des Neffen Heinz Stock ist zu entnehmen, dass Wilhelm und Elisabeth vermutlich im Jahr 1940 noch einmal für einige Monate in Finkenstein ein Geschäft betrieben haben. Ob dieses Geschäft parallel zu der Tätigkeit von Wilhelm bei der Reichsbahn betrieben wurde, ist noch unklar.

Belegen lässt sich indes, dass Wilhelm Stock am 22. Oktober 1941ein Haus nebst Geschäft und weiteren Gebäudeteilen in Kochelsdorf, Dorfstr. 1, von der Kaufmannsfamilie Reinhart kaufte. Das Haus in Kochelsdorf wird die letzte Station der jungen Familie. Es ist die Zeit des Krieges, im Westen wie im Osten.

Kaufvertrag Haus in Kochelsdorf
Für den Erwerb des Grundeigentums werden für Wilhelm insgesamt 562,50 RM an Grunderwerbssteuer fällig.
Für die Führung seines neuen Geschäftes im Nebenerwerb beantragt Wilhelm beim Landrat in Kreuzburg/OS am 22.10.1941 die Genehmigung zur Übernahme eines Gemischtwarengeschäfts in Kochelsdorf.
Wilhelm meldete erhielt weiterhin eine Genehmigung zum Butterkleinverkauf an, für die er eine Genehmigung "zur weiteren Butterverteilung im Rahmen der bei ihnen abgegebenen Bestellscheine der Reichsfettkarte" erhielt. Am 19.07.1941 schließt Wilhelm noch in Finkenstein eine Haftpflichtversicherung für das Objekt in Kocheldorf ab. Eine Ausfertigung ergeht am 20. Dezember 1941 für die Zeit vom 12.12.1941 bis 12.12.1942. Danach erfolgt eine jährliche Verlängerung. Am 02.01.1942 erhält Wilhelm die Genehmigung zum Handel mit "vollständig vergälltem Branntwein".

Am 12. August 1942 wird Wilhelm von der Reichsbahndirektion Oppeln zum Reichsbahnbetriebswart ernannt. Als dienstlicher Wohnsitz wird im Pitschen zugewiesen - und damit als Dienstort der Bahnhof in Pitschen.


Begleitschreiben zur Ernennung zum Reichbahnbetriebswart



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Gustav Stock, der Bruder von Wilhelm, lebte offenbar auch während des Krieges in Berlin, in einem Stadtteil, der nach Ende des 2. Weltkrieges zu Berlin Ost gehörte. Nach Aussage von Heiinz Stock wollte sein Onkel auch bereits vor dem Mauerbau 1961 in den Westteil Deutschlands kommen, hat allerdings aus geschäftlichen Gründen einen rechtzeitigen Umzug vor dem Mauerbau verpasst und hat später erst als Rentner einen Ausreiseantrag stellen können. Sein Haus musste er offenbar, wie damals vermutlich üblich, dem DDR-Staat überlassen.