Der Bahnhof in Pitschen

Der Bahnhof in Pitschen

Flucht der Familie



Wilhelm und Elisabeth Stock in Kochelsdorf auf der eigenen Wiese

Wilhelm und Elisabeth Stock hatten im Jahr 1933 in Kupp geheiratet. Sie zogen zunächst nach Angersdorf in der Nähe von Pitschen, wo sie einige Jahre lebten. 1940 zogen sie vorübergehend zurück nach Finkenstein, von wo aus sie einige Monate später ein Haus in Kochelsdorf kauften. Dort lebten sie bis zum 19. Januar 1945, dem 6. Geburtstag ihres zweiten Sohnes Hans. Die Zeit der letzten Kriegsmonate, der heraneilenden Roten Armee, die Zeit der Entscheidung über höchst persönliche Schicksale. Und die Zeit war bereits sehr knapp.
Die Rote Armee befand sich unmttelbar vor Pitschen. Es war eine Frage von Tagen oder Stunden - wer konnte es schon genau sagen? Heutige Erkenntnisse belegen, dass es ohnehin nur noch einen kleineren Korridor in Richtung Westen gab. Die Bevölkerung wurde zu Beginn des Jahres zunächst nach Breslau evakuiert, das zu diesem Zeitpunkt von der Reichspropaganda offiziell noch immer als sichere Zuflucht angepriesen worden sein dürfte. Entsprechend den Angaben in Wikipedia wurden die östlichen Stadtteile von Oppeln am 23./24.01.1945 erobert.
Konnte Wilhelm seine Frau und die beiden Söhne allein auf eine ungewisse Reise schicken? Hatte er überhaupt eine Wahl? Ihm wird sicher klar gewesen sein, was als Folge der deutschen Kriegsverbrechen nunmehr der deutschen Bevölkerung durch russische Truppen drohte, wenn die Familie blieb. Das archaische Prinzip der Sieger würde auch in diesem Krieg gelten: Rache nicht nur an Soldaten und Kriegstreibern, sondern Hinrichtungen, Vergewaltigungen und Plünderungen auch und vor allem an der Zivilbevölkerung.  
Aber was, wenn Frau und Kinder den Peinigern unterwegs schutzlos in die Hände fallen? Und was würde ihm, der vermutlich keine Reisegenehmigung erhielt, hier erwarten? Die Kriegspropaganda hatte Durchhalteparolen ausgegeben. Von "geordnetem Rückzug" fabulierten offizielle Stellen noch immer. Aber hatte Wilhelm überhaupt eine Alternative - eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera? Kann man einem Menschen in einer derartigen Ausnahmesituation jemals den Vorwurf einer falschen Entscheidung machen? Wer hatte sich das Recht rausgenommen, so viel Leid und Elend über so viele Menschen zu bringen? Wilhelms konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Was ist rational, was ist emotional? Eine Entscheidung auf der Basis unzureichender Informationen, einer Vielzahl von Spekulationen und der Ungewissheit, ob sie die unvorstellbaren Wirren der letzten Kriegsmonate überleben können. Was ging in diesen Tagen, in diesen Stunden, im Kopf des Familienvaters vor?  Nächte, in denen er vermutlich keinen Schlaf gefunden hat. Vielleicht gab es doch Möglichkeiten, zusammen zu flüchten - oder war das im Fall von Kontrollen schon ein sicheres Todesurteil? Alle Gedanken kreisen ums Überleben. Unter welchen Bedingungen konnte man der Hölle entkommen?
Wilhelm hatte am 17. Januar 1945, zwei Tage zuvor, die Reisebescheinigung für seine Frau und die beiden Kinder vom Bürgermeister in Kochelsdorf erhalten.
Am 19. Januar 1945 stand sein Entschluss fest. Er brachte seine Frau Elisabeth mit ihren beiden Söhnen Hans (6. Geburtstag) und Wolfgang (8 Jahre) zum Bahnhof in Bischdorf-Eichborn. Er wartete mit seiner Familie und vielen anderen auf dem Bahnsteig auf den Flüchtlingszug.
Ein Zugfahrplan aus dieser Zeit konnte über eine Fundstelle im Internet erlangt werden.

Zugfahrplan des Winters 1944/1945 (Fundstelle Internet)
Wilhelm und Elisabeth hatte verabredet, sich in dem kleinen Ort Leiferde in Niedersachsen zu treffen - wenn alles gut geht. Den Ort kannten sie, weil Elisabeths Schwester Gertrud dort als Saisonarbeiterin ihren späteren Ehemann kennengelernt hatte. Dieser Ort war nach Vorstellung Wilhelms weit genug im Westen. Es war aus heutiger Sicht eine kluge Entscheidung. Er hat damit seiner Familie und ihren Nachfahren das Leben gerettet bzw. überhaupt erst ermöglicht. Was er noch nicht ahnen konnte: Seine Nachfahren werden in der neuen Heimat ein freies Leben mit vielen Gestaltungsmöglichkeiten führen können.
Mit seiner Frau Elisabeth flohen auch ihre Schwester Mia mit Kindern sowie die Mutter der beiden Frauen. Den Unterlagen zufolge benötigten alle Personen eine sogenannte Reisegenehmigung, ohne die sie offenbar ihre Wohnorte nicht verlassen durften. Dem beigefügten Reisedokument ist zu entnehmen, dass es ausschließlich auf Elisabeth Stock und ihre Söhne ausgestellt ist. Es ist anzunehmen, dass die männliche Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt noch keine Reisegenehmigung erhalten hat.
Ob die fehlende Reisegenehmigung Wilhelm davon abgehalten hat, ebenfalls mit dem Zug in Richtung Westen zu fahren, ist bisher nicht geklärt. Gesichert ist aber,  dass Wilhelm nach Abfahrt des Zuges in Bischdorf-Eichborn auch an diesem Tag wieder zurück nach Pitschen fuhr, wo er nach Zeugenaussagen noch am selben Tag gegen 10.30 Uhr von anrückenden Soldaten erschossen worden sein soll. Tatsächlich ist in Wikipedia unter der Ortschaft Pitschen der Hinweis vermerkt, dass die Rote Armee am 19.Januar 1945 Pitschen erreicht hat - der sechste Geburtstag des jüngeren Sohnes Hans.

Von diesem Bahnhof in Bischdorf Eichborn flüchteten die Familienangehörigen vermutlich mit einem der letzten Züge.

Hans hatte an diesem Januarmorgen die übliche Geburtstagsfeier erwartet. "Er war bockig und wollte seinen Geburtstagstisch," so die Mutter später. Doch in dieser Situation war weder Zeit noch Gelegenheit.
Wilhelm hat den Krieg nicht überlebt. In den letzten Wirren hatte er keine Wahl - und er hatte vermutlich auch keine Überlebenschance. Seine Frau hat noch viele Jahre gehofft - gehofft auf ein Lebenszeichen, gehofft, dass die Zeugenaussage vielleicht doch nicht stimmte. Sie wird später sagen, dass die 12 Jahre mit Wilhelm die schönsten in ihrem Leben waren. Doch ihr Leben und das ihrer Kinder und Enkel geht weiter.
Über die Umstände des Todes gibt es unterschiedliche Berichte. Ein Dokument gibt Aufschluss über die Feststellung des Todes:
Beglaubigung des Sterbefalls Wilhelm Stock
Der standesamtlichen Eintragung nach erfolgte die Eintragung aufgrund einer eidesstattlichen Erklärung des Reichbahnbetriebswarts Eduard Werner in Holdenstedt.
Schon während der Reise wurde der Zug nach Erzählungen der Beteiligten beschossen. Lebensmittel mussten die Flüchtenden selbst mitnehmen. Heißes Wasser gab es bei Fahrtunterbrechungen an der Lokomotive. Die Fahrt dauerte insgesamt mehrere Tage und endete für die Flüchtenden zunächst in Lengenfeld, wo sie einige Wochen des eisigen Winters bei einer Gastfamilie verbrachten.


Von dort flohen sie Anfang April weiter in den Kreis Gifhon in Niedersachsen. Dort wurden sie mit insgesamt 10 Personen dem Bauernhaus von Karl Brandes zugewiesen, der zu dieser Zeit ebenfalls als Soldat eingezogen worden war.

Soldat Karl Brandes (mit Punkt gekennzeichnet)